“Kalanags Leben ist eine Parabel über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts”
Nach sieben Jahren Arbeit erscheint morgen Malte Herwigs umfassende Biografie Der große Kalanag im Verlag Penguin Random House mit einer Startauflage von 10.000 Exemplaren. Auf nun 480 Seiten – zunächst waren “nur” 340 angekündigt – beschreibt und durchleuchtet der promovierte Literaturwissenschaftler, Historiker, Autor und Journalist das trick- und wendungsreiche Leben von Helmut Schreiber (1903-1963), jenem umtriebigen Zauberamateur, der im Dritten Reich zu einem bedeutenden Kulturfunktionär aufstieg und dabei stets die Nähe von Nazi-Größen bis hin zu Adolf Hitler persönlich suchte und auch fand. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs, zweifelhaftem Entnazifizierungsverfahren und Berufsverbot als Filmschaffender erfand er sich ebenso erfolgreich wie mysteriös neu als Illusionist “Kalanag”, der fortan mit einer magisch-musikalischen Revue von atemberaubender Größe die Welt bereiste und seine Vergangenheit verschwinden ließ.
Malte Herwig ist tief in Archive und Quellen eingestiegen, wie nicht nur knapp 50 Seiten mit Fußnoten im Buch belegen, und hat zahlreiche Zeitzeugen aufgespürt. Im Interview spricht er über seinen Zugang zu Helmut Schreiber-Kalanag, die vielfältige Unterstützung durch die Zauberszene und seine größten Entdeckungen.

Malte, wann und wo ist dir zum ersten Mal die Person Helmut Schreiber-Kalanag begegnet oder ins Auge gefallen?
Vor zehn Jahren stieß ich im Internet auf den Magischen Zirkel in Hamburg und dachte mir: „Magischer Zirkel“ – das klingt so schön verschwiegen und mysteriös. Ich habe Thomas Gundlach, den 1. Vorsitzenden des Hamburger Ortszirkels, angemailt und gefragt, ob ich mal vorbeischauen dürfte. Thomas hat sofort geantwortet und mich zu einer der öffentlichen Vorführungen ins Magiculum eingeladen. In der Bar dort bemerkte ich das Foto eines Mannes an der Wand, der ein bisschen wie Heinz Erhardt aussah, und wurde gleich aufgeklärt, das sei der berühmte Kalanag. Ich hatte den Namen noch nie gehört und habe dann noch in der gleichen Nacht angefangen mit der Recherche. The rest is history.
Was hat dich denn so besonders an Schreiber oder seiner Lebensgeschichte gereizt, um gleich seine Biografie zu verfassen?
Ich bin Historiker und habe mich immer wieder mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts beschäftigt, weil ihre Folgen noch heute spürbar sind. Aber ich komme aus der Kunst, der Literatur, dem Feuilleton. Kalanag fasziniert mich, weil er nicht nur ein interessanter Künstler war, sondern auch eine ungeheuer spannende politische Biographie hat. Er hat schon im Ersten Weltkrieg als Dreizehnjähriger im Lazarett gezaubert, die wilden Zwanziger in Berlin erlebt, im Dritten Reich Karriere gemacht und ist nach dem Krieg als Zauberkünstler aus Wirtschaftswunderdeutschland weltberühmt geworden. Kalanags Leben ist eine Parabel über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er ist der Zauberer der Stunde Null – vielleicht der größten Illusion überhaupt.

(Bild: Archiv Stiftung Zauberkunst)
Spielte es dabei für dich eine große Rolle, dass er Zauberkünstler und -funktionär war, oder hätte er bei ähnlicher deutscher Vita zum Beispiel auch Unternehmer, Dirigent oder Beamter sein können?
Ich muss ein Geständnis machen: Für die 500-Seiten-Biographie eines Abteilungsleiters hätte ich nie die nötige Geduld. Ich habe sieben Jahre an diesem Buch gearbeitet. Da will man ja nicht nur das Publikum gut unterhalten, sondern auch sich selbst. Im Übrigen glaube ich, dass die Begeisterung, die man selbst bei der Arbeit spürt, auf andere überspringt. Das kann man nicht künstlich erzeugen oder einfach behaupten. Es muss authentisch sein. Für mich war es ein Abenteuer, und das soll es auch für meine Leserinnen und Leser sein. Deshalb auch das szenische Erzählen – es hat in der angelsächsischen Biographik eine lange Tradition, zum Beispiel bei Claire Tomalin und A.N. Wilson, und hat nichts mit Fiktion zu tun, auch wenn es sich literarischer Hilfsmittel bedient.
Was war dann dein konkreter Einstieg in sein Leben, welche Quellen hast du dir zuerst erschlossen?

Ich habe als ersten Michael Holderried besucht, und er hat mir seine Scheune aufgeschlossen, in der diese wunderbaren originalen Kalanag-Illusionen standen. Da ist dem Reporter in mir gleich das Herz aufgegangen, ich liebe solche Recherchen, die auf Dachböden und in Scheunen führen, und Michael war ein wunderbarer erster Cicerone ins Reich von Kalanag. Dann kam die Stiftung Zauberkunst mit dem Kalanag-Nachlass, dann Wittus Witt mit seinem umfangreichen Zauberwissen. Auch mit Richard Hatch und Bernd Heller, deren frühere Recherchen zu Kalanag wegweisend waren, habe ich mich oft ausgetauscht. Magic Christian in Wien und Rico Leitner in Zürich haben mir mit ihrem Wissen über Kalanags Wirken in Österreich und der Schweiz wertvolle Unterstützung geleistet. Ich habe in all diesen Jahren als Außenstehender eine Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft aus Zauberkreisen erfahren, die ihresgleichen sucht.
Das ist schön zu hören. Wie hilfreich waren für dich speziell der Kontakt zur und die Quellen der Stiftung Zauberkunst von Michael Sondermeyer und Uwe Schenk?
Mir wurde schnell klar, dass die beiden auf einem Schatz sitzen mit dem Kalanag-Nachlass. Als ich dann das erste Mal nach Nottuln-Appelhülsen kam, war ich überwältigt: Von der Hilfsbereitschaft und Kenntnis der beiden, von der Fülle des Kalanag-Materials und von der großartigen Sammlung und Bibliothek, die Michael und Uwe dort über Jahrzehnte aufgebaut haben. Ich war dann über die Jahre immer wieder dort und bin davon überzeugt: Dass mitten in einem grauen Industriezentrum am Bahnsteig in der westfälischen Provinz so etwas existiert, grenzt wirklich an Magie. Dass die beiden das jetzt mit der Gründung der „Stiftung Zauberkunst“ für zukünftige Generationen bewahren, ist jede Unterstützung wert.
Du hast auch früh versucht, noch lebende Zeitzeugen – etwa ehemalige Tänzerinnen der Kalanag-Revue – ausfindig zu machen. Wie erfolgreich warst du dabei?
Das war der schwierigste Teil meiner Recherchen. Aber als alter Reporter habe ich ein bisschen Übung darin, Menschen aufzuspüren und wurde auch aus Zauberkreisen sehr unterstützt bei der Kontaktaufnahme. Die Gespräche mit ehemaligen Mitarbeiterinnen wie Fritzi, Gisela, Gitta, Heidi, Heike, Lilo und Ursula, mit Zeitzeugen wie David Berglas, Paul Potassy, Siegfried und vielen weiteren gehören zu den schönsten Erfahrungen meiner Arbeit. Besonders wichtig war auch die Begegnung mit seinen beiden Töchtern, Brigitte und Brigitte. Deshalb habe ich auch nie locker gelassen und würde bis ans Ende der Welt gehen, um mit interessanten Menschen zu sprechen.
Eine doppelte Brigitte? Bitte erzähle mir mehr von den beiden!
Ich bin wahrscheinlich der einzige, der beide Töchter kennengelernt hat. Diese Begegnungen gehören mit zu dem Bewegendsten, was ich bei der Recherche erlebt habe. Die ältere Brigitte war bereits über neunzig, als ich sie traf, aber was für eine lebhafte und besondere Frau! Die jüngere Brigitte habe ich kurz vor Schluss noch gefunden, obwohl mir immer wieder erzählt wurde, sie sei längst gestorben. Man darf eben nie aufgeben. Von beiden Treffen erzähle ich ausführlich im Buch.

(Bild: Archiv Stiftung Zauberkunst)
Unglaublich… Hast du etwa auch noch Neuigkeiten zum Verbleib des Nazi-Goldes und Schreibers Rolle dabei?
Hätte ich das Nazi-Gold gefunden, dann würde ich dieses Interview jetzt von meinem Anwesen auf den Seychellen aus geben oder wenigsten von den Philippinen wie der alte Paul Potassy, der bei unseren Skype-Gesprächen zwischendurch Goldtaler aus dem Mund spuckte. Tatsächlich habe ich nach jahrelanger Recherche detaillierte Informationen über Kalanags Konten und sogar über die mysteriösen Schlüssel entdeckt, die Gloria nach seinem Tod fand und die ich ursprünglich für eine reine Erfindung von Punx hielt. Ich lege diese Informationen im Buch offen: Schatzjäger in spe können sie gerne als Karte nutzen und weitermachen.
Gibt es ein Leitmotiv deiner Biografie, vielleicht einen Satz, der Helmut Schreibers illusionsreiches Wesen als Mensch und Magier aus deiner Sicht am besten beschreibt?
„Simsalabim – Da bin ich wieder.“ Das ist die Zauberformel, mit der Kalanag sich und sein Leben neu erfunden hat. Das Simsalabim, das er von Dante übernommen hat, gehört genauso dazu wie das „Da bin ich wieder“: Er war ein Stehaufmann, ein Comeback-Kid und auch ein Karrierist. Mich hat von Anfang an die Frage interessiert, wie Helmut Schreiber-Kalanag sein Talent als Zauberkünstler im wirklichen Leben genutzt hat. Ich finde den Begriff Täuschungskünstler sehr treffend. Der Zauberkünstler Kalanag hat auf der Bühne sein Publikum getäuscht – der Mensch Helmut Schreiber im zivilen Leben die Alliierten, die Nazis und sogar die Menschen, die ihm am nächsten standen, also Freunde und Familie. Und das hat er so geschickt gemacht, dass die meisten, allerdings nicht alle, sich sogar gerne täuschen ließen – das ist wahre Zauber-Kunst!

(Bild: Bildarchiv der National Archives at College Park, Maryland, Foto: Heinrich Hoffmann)
Dein Buch erscheint im Penguin Verlag für ein breites Publikum. Welche Schmankerl kannst du den Zauberern unter deinen Lesern versprechen?
Einblicke in seine Zaubernotizbücher (auch im Bildteil), Blicke hinter die Kulissen und vieles mehr. Ich habe im Nachlass wirklich aus dem Vollen schöpfen können. Außerdem zeige ich, mit welchen Mitteln dieser Junge aus Schwaben es geschafft hat, so eine beeindruckende Weltkarriere hinzulegen. Davon kann man heute noch lernen, im Guten wie im Schlechten. Eine spannende Geschichte ist auch das Duell der Magier: Ich erzähle zum ersten Mal ausführlich von der erbitterten Fehde zwischen Kalanag und Marvelli, die im Dritten Reich und danach mit allen Mitteln ausgetragen wurde.
Auch ein dunkles Kapitel… Was ist denn für dich deine allergrößte Entdeckung oder Neubewertung im Leben Kalanags?
Seine Persönlichkeit. Der Mensch Helmut Schreiber ist ja vollkommen hinter dem Zauberkünstler Kalanag mit seinen flotten Sprüchen und der atemberaubenden Tempo-Magie verschwunden. Ich bin überzeugt davon, dass er das so gewollt hat. Er selbst, sein Charakter, sein Innerstes, sollte geheim bleiben. Ich bin ihm dennoch sehr nahe gekommen, vor allem in den Gesprächen mit seinen beiden Töchtern.
Dieses Buch ist kein Roman, sondern eine wahre Geschichte. Für einen Roman wäre Kalanags Leben zu unglaublich. (M.H., Seite 420)
Und wieviel Wahrheit oder Illusion steckt nach deinen Recherchen in Schreibers selbst verfassten „Lebenserinnerungen“?
Kalanag hat eine Handvoll Körnchen Wahrheit genommen und sie dann in einer ganz großen Büchse voll Erfindungen geschüttelt. Ich habe ihm erstmal gar nichts geglaubt, nach Belegen gesucht und seine Geschichten auf ihre Plausibilität geprüft. Ich zeige im Buch auch, wie er sich gezielt stilisiert – und zwar in der literarischen Tradition eines Robert-Houdin und anderer berühmter Vorgänger. Kalanags Memoiren sind, wie es sich für eine ordentlichen Zauberkünstler gehört, Teil einer großen Illusion.

(Bild: Archiv Stiftung Zauberkunst)
Hattest du eigentlich schon früher Berührungspunkte zur Zauberkunst? Und hat sich deine Sicht auf sie womöglich durch dein Buchprojekt verändert?
Ich habe als Teenager ein paar Zauberbücher gelesen und einen Zauberkasten gehabt. Halbwegs stolz bin ich darauf, dass ich mir damals immerhin die Drehkarte beigebracht habe. Aber für mich waren das nur Tricks, ich hatte noch kein Gespür für die Kunst. Heute fehlt mir die Fingerfertigkeit, aber nach sieben Jahren mit Kalanag und vielen interessanten Begegnungen mit Zauberkünstlern und -künstlerinnen habe ich enormen Respekt und Wertschätzung für die Kunst des Zauberns, ihre Traditionen und Werte. Ich glaube, das scheint auch in meinem Buch durch, das nicht nur vom „großen Kalanag“ erzählt, sondern auch von der Faszination der Zauberkunst.
Letzte Frage: Ist womöglich auch schon eine englische Ausgabe deines Buches angedacht?
Mein Verlag Penguin Random House bietet aktuell die weltweiten Rechte für das Buch an. Die abenteuerliche Geschichte des Zauberkünstler Kalanag und seiner Zeit ist ja nicht nur für ein deutsches Publikum interessant. Kalanag hat vor Hitler gezaubert und dann – im wahrsten Sinne des Wortes – die Welt erobert. Es ist eine Geschichte voller Erfolge und Rückschläge, eine Geschichte über Wahrheit, Lüge und Verrat und darüber, warum wir alle uns manchmal bereitwillig täuschen lassen. Kalanag ist Stoff für Hollywood.
Besten Dank für das Gespräch, Malte, und viel Erfolg mit deinem Buch!
(Interview: Jan Isenbart)
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Nein, Helmut Schreiber log nicht. Dafür war er viel zu raffiniert. Er erweckte Anschein, machte vor, redete ein, suggerierte, manipulierte und verwirrte die Tatsachen, bis man von selbst auf ganz andere kam. Überhaupt, diese Liebe zur Wahrheit. Philosophen hatten einfach keine Fantasie. Für den Zauberkünstler Helmut Schreiber war die Welt alles, was der Fall sein könnte. Die Wirklichkeit hatte viele Facetten, am Ende war es eine Frage der Perspektive, nicht wahr? Lügen tut nur, wer sich festlegt. (M.H., Seite 44)
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Hier geht es zu Malte Herwigs Website. Bei Twitter und Instagram findet man ihn unter @malteherwig.
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Aus dem Waschzettel des Verlages zum Buch:

Das Buch kann neben dem regulären Buchhandel auch über den Zauberfachhandel oder die Stiftung Zauberkunst bezogen werden.
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Der Trailer zum Buch:
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TV-Doku: „Verzaubert und verdrängt – die Karriere des Magiers Kalanag“
Passenderweise zeigt Das Erste am Abend der Buchveröffentlichung (Montag, 22. März 2021, 23:35 Uhr) eine 45-minütige TV-Dokumentation über Helmut Schreiber-Kalanag. „Verzaubert und verdrängt – die Karriere des Magiers Kalanag“ ist ein Film von Oliver Schwehm (Lunabeach TV und Media GmbH) im Auftrag des SWR. Zu Wort kommen darin neben Malte Herwig auch der Filmhistoriker und Autor Rolf Aurich sowie Liselotte Littobarski, die letzte Sekretärin Kalanags. Sprecher ist der Schauspieler Ben Becker. Nach der Ausstrahlung wird die Dokumentation ein Jahr lang in der ARD Mediathek abrufbar sein.

(Bild: SWR/Stiftung Zauberkunst)
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